"Das eingebildete Leben", Reportage über falsche Erinnerungen
Titelgeschichte im «Spiegel» Heft 1/2016
Was ist wirklich passiert? Diese Frage ist viel weniger leicht zu beantworten als man glaubt und als auch so mancher vernehmende Polizist vermutet. Der Autor Manfred Dworschak, Wissenschafts-Redaktor beim «Spiegel», verweist auf eine Vielzahl von Experimenten zum Gedächtnis, die vor allem eines belegen: dass unsere Erinnerungen sich formen und verändern und wir vergangenes Geschehen immer aufs neue zusammensetzen. Die Faktoren für dieses Umformen sind vielfältig.
- Man wünscht sich einen plausiblen Hergang und „rundet“ das Geschehen.
- Man füllt bewusst oder unbewusste Lücken in der Erinnerung auf.
- Das Vertrauen zur fragenden Person und deren Erwartungshaltung regt die Phantasie an.
- In einer Therapie wird man aufgefordert, sich an Einzelheiten des vermeintlichen Missbrauchs zu erinnern, die dann auch tatsächlich „auftauchen“.
- Dem enormen Druck bei einer Vernehmung kann man ausweichen, indem man das Gewünschte präsentiert.
Der Artikel zeigt auf, wie brisant sich diese Phänomene auf Ermittlung und Rechtsprechung auswirken. „Falls sie [die Polizei] allzu sehr auf ein Geständnis aus ist, bekommt sie leicht ein falsches“, berichtet die Psychologin Julia Shaw. „Aber weiß das auch die Polizei?“ ergänzt der Autor. Eine amerikanische Untersuchung förderte nicht weniger als 25 Prozent Fehlgeständnisse zutage. Doch „Wissenschaft und Praxis, so scheint es, finden nicht so schnell zueinander“, resümiert Manfred Dworschak.
Sein Artikel ist ein Plädoyer, dem Gedächtnis aus guten Grunde zu misstrauen – besonders von seiten der Polizei und der Justiz. Wer mit grundlegenden Gesetzmässigkeiten des Erinnerns vertraut ist, kann die Leistungen wie auch die Fehlleistungen des Gedächtnisses besser einschätzen.
Die wissenschaftlichen Hintergründe ihrerseits werden in diesem Beitrag nur gestreift. Dem weitergehend interessierten Leser empfehlen wir unseren Artikel «Tat ohne Täter» aus der Zeitschrift «Kriminalistik».
Anfang Februar werden wir hier den vollständigen «Spiegel»-Aufsatz verlinken. Aus rechtlichen Gründen ist das nicht früher möglich.